Die Arbeitszeit ist in kapitalistischen Unternehmen keine Frage des individuellen Beliebens. Im Gegenteil generieren die Unternehmen ihre Gewinne durch die unentgeltliche Aneignung von Mehrarbeitszeit gegenüber der durch Lohn und Gehalt bezahlten Arbeitszeit. Eine „freie“ Festlegung der Arbeitszeit in einem kapitalistischen Unternehmen ist daher eine Illusion. Aber eine solche Illusion kann sich bezahlt machen, vor allem für die kapitalistischen Unternehmen.
Da die Gewinne der Möglichkeit nach unendlich steigerbar sind, entwickeln Unternehmen auch einen schier unbegrenzten Hunger nach – möglichst unentgeltlich geleisteter – Arbeitszeit. Um an mehr Zeit der Beschäftigten zu gelangen, nutzen die Unternehmen im Rahmen der indirekten Steuerung bestimmte Sozialtechnologien, speziell die Teamarbeit, die sich in den meisten Unternehmen durchgesetzt hat.
Ich -Wir-Struktur
Über die bereits kurz angerissenen Teamprozesse setzen die Unternehmen die Beschäftigten unter Druck, „freiwillig“ Mehrarbeit zu leisten. Diese Mehrarbeit soll möglichst unerfasst bleiben. Dabei gehen die Unternehmen von organisierten Einheiten, also Teams und Abteilungen aus. Sie behandeln die Individuen als Mitglieder solcher Teams und Einheiten. Der Grund dafür ist, dass Teams und Einheiten nicht kündigen können. (Die Rede von einer „interessierten Selbstgefährdung“ ignoriert leider diesen Zusammenhang.) Die Unternehmen setzen die Einheiten und die Teams unter Druck – durch höhere Anforderungen oder Entzug von Ressourcen. Dieser Druck wird dann jeweils von allen Teammitglieder auf jedes einzelne Teammitglied fokussiert.
Aus der Sicht eines Teammitgliedes liest sich das so: „Wir“ gemeinsam als Team machen Druck auf jeden Einzelnen und jede Einzelne von uns, also möglicherweise auch auf mich. „Wir“ sind stärker als jede und jeder Einzelne von uns. Denn erstens sind wir mehr. Zweitens ist jeder und jede Mitglied des Teams und in sich gespalten. Denn jedes Mitglied gehört zu dem „Wir“, hat aber auch noch ein anderes Leben. „Wir“ sind also durchsetzungsfähig gegen jede und jeden von uns, und also auch gegen mich selbst. Wenn es zu einer Machtprobe kommt, verliere ich. Soweit lasse ich es also nicht kommen, wenn ich noch bei Vernunft bin. Im Gegenteil: Ich bewege mich am besten von vorneherein in den von der Gruppe akzeptierten Bahnen.
Der Druck zur Mehrarbeit
Dass die Durchsetzung gegen die Gruppe höchst unwahrscheinlich und im Zweifelsfall sogar unmöglich ist, beweisen auch die Experimente der Gruppendynamik, die seit den 40er Jahren üblich sind. Wenn „wir“ etwas beschließen und dann die Aufgaben verteilen, versuche ich – wie jedes andere Gruppenmitglied auch – meine Aufgaben zu erfüllen. Wir stehen in Konkurrenz zu anderen Gruppen innerhalb und außerhalb des Unternehmens stehen. Daher setzen „wir“ uns „sportliche“ Ziele, um nicht schlechter als die Anderen dazustehen. Womöglich erhalten wir sonst weniger Aufträge.
Dann werden wir an die Arbeit gehen und uns gegenseitig regelmäßig kontrollieren, ob jede und jeder jeweils ihre oder seine Aufgabe geschafft hat. Sollte das nicht der Fall sein, denken alle in der Gruppe beispielsweise über mich nach und sehen mich an. Das ist eine unangenehme Situation, die ich lieber gerne vermeiden möchte. (Diese unangenehme Situation und ihre Wirkungen werden ebenfalls seit den 40 Jahren erforscht.) Ich versuche also, bei diesen Kontrollen gut dazustehen. Sollte es mir in der Arbeitszeit nicht gelingen, die Ergebnisse zu liefern, so habe ich immer noch die Freizeit. Ich werde also länger arbeiten – „freiwillig“, um dem Druck der Gruppe zu entgehen.
Selbstverständlich sollte ich diese Verlängerung der Arbeitszeit nicht erfassen. Denn das würde ja bedeuten, dass ich selber einräume meine Arbeit in der dafür vorgesehenen Zeit nicht zu schaffen. Wie stehe ich denn dann vor der Gruppe da? (Auch diese Situation ist in der Gruppendynamik reichlich erforscht worden.)
Das reicht der Arbeits- und Organisationspsychologie nicht
Aber diese „freiwillige“ Mehrarbeit ist mangelhaft – aus der Sicht der Arbeits- und Organisationspsychologie. Man merkt sofort: Das Team wird hier nicht wirklich. Es bleibt eine bloß stumme Voraussetzung der Mehrarbeit von Individuen. Dieser Mangel lässt sich durch Überforderung der Teams lösen. Wenn das Team – weniger moderat – überfordert wird, als das für gewöhnlich ohnehin der Fall ist, dann tritt das Team als solches in Aktion. Die Überforderung des Teams äußert sich dahin, dass mindestens ein Mitglied des Teams formuliert: Ich schaffe es nicht mehr. Darauf – damit rechnen die Arbeits- und Organisationspsychologen mit Recht – reagieren die anderen Teammitglieder, indem sie dem überforderten Teammitglied angeblich helfen. Da niemand darauf gewartet hat, helfen zu können und die meisten auch bisher schon was zu tun hatten, spielt sich diese Hilfeleistung in der Freizeit ab und wird wie selbstverständlich nicht als Arbeitszeit erfasst.
So entstehen systematisch und auf wissenschaftlich erforschtem Wege verlängerte und nicht erfasste Arbeitszeiten zugunsten der Unternehmen. Geholfen wird nicht den überforderten Beschäftigten, sondern den überfordernden Unternehmen: Die werden daraus, dass das klappt, schließen, dass offenbar noch Reserven im Team vorhanden sind, die durch eine weitere Überforderung zu mobilisieren sind. Sie werden – mit anderen Worten – die Ziele erhöhen.