Die Unternehmensleitung überlässt also den in Teams organisierten Kolleginnen und Kollegen die Führungsarbeit. Führungskräfte konzentrieren sich heute in der Regel darauf, die Bedingungen so zu gestalten, dass die Teams der Führung bedürfen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Aus ihrer Sicht geht die Führung im Team „von selbst“ in der Zusammenarbeit hervor; sie „emergiert“, wie das im einschlägigen Management-Deutsch heißt.
Führung als sozialer Prozess
Dabei verlässt sich die Unternehmensleitung auf ihre Fähigkeit, soziale Prozesse unter den Kolleginnen und Kollegen zu steuern. Diese Prozesse werden also zunächst nicht von den Kolleginnen und Kollegen bestimmt, sondern umgekehrt. Die sozialen Prozesse steuern zunächst den Willen und das Verhalten der Kolleginnen und Kollegen. Solange sich die Kolleginnen und Kollegen kein gemeinsames Bewusstsein dieser Prozesse erarbeiten, bleibt das so. Die sozialen Prozesse stellen also das Mittel dar, durch das die Unternehmensleitung den Willen und das Verhalten der Teammitglieder bestimmt.
Das wirkt im Vergleich zur autoritären Führung zunächst antiautoritär und befreiend. Deswegen begrüßen die meisten Kolleginnen und Kollegen diese Entwicklung mit Recht. Denn sie erhalten mehr Entscheidungs-Kompetenz und Verantwortung. Dies ist ein Ausdruck der Produktivkraftentwicklung der gesellschaftlichen Arbeit.
Allerdings bringt sie auch ein Problem mit sich: Soziale Prozesse wirken solange unkontrolliert, wie sie unbewusst bleiben. Mit dem Mangel an Bewusstheit entstehen mit zunehmendem Druck auf die Teams Probleme. Auf die Dauer sind die Schwierigkeiten nicht mehr von der Hand zu weisen. Es machen sich psychische Belastungen, Mobbing, aggressives Verhalten unter den Kolleginnen und Kollegen und unkontrollierte Verlängerung der Arbeitszeiten bemerkbar. Diese Probleme sind auf die Dauer oft Ursache von ernsten und chronischen Erkrankungen. Wer aber Ursachen der psychischen Belastungen in den Prozessen der indirekten Steuerung nicht versteht, kann sich damit kaum wirksam auseinandersetzen. Die Kolleginnen und Kollegen müssen daher lernen, die Mechanismen der indirekten Steuerung in Bezug auf Führung zu verstehen und bewusst zu machen.
Sich gemeinsam das Bewusstsein von Führungsprozessen erarbeiten
Die Kolleginnen und Kollegen in den Teams können sich fragen: Wie setzen wir in unserer Einheit, in unserem Team Führung um? Wenn die Führung in unbewussten sozialen Prozessen umgesetzt wird, überlassen sich die Kolleginnen und Kollegen der indirekten Steuerung durch die Unternehmensleitung. Dann ersetzen sozialer Druck und soziale Kontrolle die bewusste Entscheidung. Dann verteilt sich die Arbeit „von selbst“. Die Teammitglieder verlieren nach und nach die Kontrolle darüber, wem was zugemutet wird.
Wenn die Kontrolle durch eine äußere Autorität wegfällt, dann müssen die Kolleginnen und Kollegen sich diese Kontrolle selbst erarbeiten, wenn sie gesund bleiben wollen. Dann entstehen Fragen wie: Wer kann was in der Arbeitszeit leisten und wer was nicht? Die Kolleginnen und Kollegen werden sich dann darüber Klarheit erarbeiten, was sie tatsächlich übernehmen können und was eine Überforderung darstellt. Sie werden lernen, sich gemeinsam über Arbeitsbedingungen zu verständigen und gemeinsam gegen Überforderung durch die Unternehmensleitung vorzugehen. Auf diese Weise können sie lernen, unternehmerische von gewerkschaftlicher Solidarität zu unterscheiden und sich gemeinsam gegen die Instrumentalisierung der Solidarität durch die Unternehmen wehren.
Zwei Versuchungen, die es zu vermeiden gilt
Das Verstehen der Mechanismen der indirekten Steuerung wirkt zwei Versuchungen entgegen, die jetzt oft zum Alltag in der Zusammenarbeit gehören: Die erste Versuchung besteht darin, jemanden im Team zu suchen, der oder die daran Schuld ist, dass wir es gemeinsam im Team nicht schaffen. Dann konzentrieren sich die Teammitglieder nicht auf die Anforderungen der Unternehmensleitung. Sie machen die gemeinsame Überforderung zum Problem eines Teammitglieds, das angeblich seine Arbeit nicht macht oder schafft – (während alle anderen angeblich kein
Problem haben). Das Team bringt das hervor, was man im Management-Deutsch einen „Lowperformer“ nennt. Den ein „Lowperformer“ ist nicht ein Individuum, das wenig arbeitet. Es handelt sich um ein Teammitglied, das als eine Gruppenfunktion zum Ausdruck bringt, dass das Team überfordert ist.
Die zweite Versuchung besteht darin, zu glauben, man könne sich gegen die sozialen Prozesse in der Gruppe als Individuum behaupten. Zahlreiche sozialpsychologische Experimente zeigen, dass das nicht zutrifft. Beziehungen kann man nur gemeinsam zu beherrschen lernen. Eine solche gemeinsame und solidarische Zuwendung zu den persönlichen Beziehungen in der Zusammenarbeit ist notwendig, wenn man nicht blind in die Fallen der indirekten Steuerung durch die Unternehmensleitung tappen will.
Bewusstheit in der Zusammenarbeit gewinnen
Führung ist eine notwendige Funktion in der Zusammenarbeit. Die Führungsfunktion besteht an sich in der
Bewusstheit dessen, was zu tun ist und wie es zu schaffen ist. Durch die Verwandlung in einen unbewussten sozialen Prozess verliert sich die Bewusstheit. Es verschwindet die Frage, wie die Arbeit zu schaffen ist. Die Kontrolle über die Arbeitszeit geht verloren. Die Kolleginnen und Kollegen erfahren durch Mechanismen, die ihnen unbewusst bleiben, was zu tun ist. Da spiel es dann keine Rolle, ob und wie es zu schaffen ist. Deswegen ist für die Kolleginnen und Kollegen der Dreh- und Angelpunkt, Bewusstheit im Umgang mit der Führungsfunktion zu gewinnen. Das gilt sowohl in der Organisation der gemeinsamen Arbeit als auch in der Wahrnehmung der Führungsfunktion.
Eine Möglichkeit, den Prozess der Bewusstwerdung zu organisieren ist die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen. Sie kann dafür genutzt werden, wenn die Methode/der Anbieter gewerkschaftlich und nicht individualpsychologisch orientiert ist. Eine zweite Möglichkeit ist die realitätsgerechte Erfassung der Arbeitszeit sowohl als Individuum wie im Team.