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Neu: Hat die Mitbestimmung eine Zukunft?


Die Bedingungen für die Mitbestimmung haben sich geändert. Meist werden dabei  objektive Bedingungen genannt: Etwa Globalisierung, ökologische Krise, Digitalisierung oder demografischer Wandel. Es gibt aber noch eine zweite Seite der Veränderungen, nämlich die Veränderung der Fähigkeiten der Kolleginnen und Kollegen und die entsprechend veränderte Arbeitsweise.

Die Unternehmensleitungen wollen und müssen diese neuen Fähigkeiten der Beschäftigten nutzen und sie auch deswegen in unternehmerische Entscheidungen miteinbeziehen. Wir wollen aber hier zeigen, dass zwischen einer Beteiligung an bzw. einer Überlassung der unternehmerischen Entscheidungen (natürlich in einem vorgegebenen Rahmen) und einer betrieblichen Mitbestimmung im Sinne der gewerkschaftlichen Interessenvertretung ein wichtiger Unterschied besteht. Wer diesen Unterschied übersieht nimmt den Interessengegensatz nicht ausreichend wahr. Das schränkt die Interessenvertretung für die Beschäftigten ein. Ganz praktisch zeigt sich dies beispielsweise in Betriebsversammlungen, in denen von der Geschäftsführung das gemeinsame WIR in Bezug auf den Standort beschworen wird. Damit erklärt sich das Management zum Sprachrohr der Beschäftigten, der Interessengegensatz scheint zu verschwinden – was dem Management sicher ganz recht ist. Umso schwieriger ist es für die Betriebsräte ein kollegiales und solidarisches WIR anzusprechen. Mitunter gelingt es der Geschäftsleitung sogar, Kolleginnen und Kollegen dafür zu gewinnen, Forderungen gegen den Betriebsrat auch auf der Betriebsversammlung vorzubringen. Offenbar hat sich das Verhältnis der Beschäftigten zu dem Unternehmen, in dem sie arbeiten, verändert. Wie kommt das? Für die Interessenvertretung kommt es darauf an, diese Veränderung nicht nur zu verurteilen, sondern zu verstehen.

Worum es bei dieser Veränderung geht

Die Kolleginnen und Kollegen bearbeiten heute ihre Arbeit und ihre Zusammenarbeit und entwickeln sie weiter – im Management-Deutsch: Sie optimieren sie. Diese Seite der Veränderung kann man mit Marx als einen qualitativen Fortschritt in der Produktivkraftentwicklung der gesellschaftlichen Arbeit verstehen.Der Arbeitgeber passt sich dieser Veränderung an, indem er die Arbeitsorganisation verändert.

Holzschnittartig könnte man sagen: Er nimmt die Unternehmerfunktion immer weniger wahr, zieht sich stattdessen in Holdings zurück und organisiert Märkte im Unternehmen. Er führt die Unternehmensteile als selbstständige Geschäftseinheiten und Profitcenter, die sich wiederum aufteilen in kleinere Einheiten, bis hin zu Teams. Für diese Einheiten werden nach Möglichkeit unternehmensinterne Märkte organisiert, auf denen sich die Beschäftigten gemeinsam zu bewähren haben. Und sie bewähren sich, indem die Kolleginnen und Kollegen mehr und mehr Unternehmerfunktionen an sich ziehen. Sie reflektieren, was der unternehmensintern organisierte Markt von ihnen verlangt, und fassen – mehr oder weniger bewusst – Beschlüsse, wie sie diesen Anforderungen gerecht werden wollen. Diese Beschlüsse sind zunächst Gedanken und stehen bestenfalls auf Papier. Sie müssen jedoch auch umgesetzt werden. Daher setzen die Teams und die Einheiten ihre Mitglieder als Einzelne unter massiven Druck, damit diese Beschlüsse auch umgesetzt werden.

Die Arbeitgeber erhöhen in der Regel die Ziele, verändern die Rahmenbedingungen und verändert die Ressourcen Jahr für Jahr – oft nur moderat -, so dass die Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit bearbeiten und weiterentwickeln müssen. Sie werden produktiver und sorgen so dafür, dass der Arbeitgeber weiter die Ziele erhöhen kann und wird. Der Arbeitgeber verlässt sich jedoch nicht nur auf die Bearbeitung der gemeinsamen Arbeit, sondern auch auf den Druck, den die Teammitglieder gemeinsam auf jedes einzelne Mitglied entfalten. Aus Sicht des Teams: WIR gemeinsam im Team nehmen die Unternehmerfunktion wahr, ich, du, er, sie, dieselben WIR, aber als Einzelne müssen es tun; und wir setzen mit der Macht der Gruppe durch, dass jeder und jede Einzelne tut, was zur Zielerreichung erforderlich ist.

Rückzug der Führungskräfte aus dem Tagesgeschäft

Die Führungskräfte, die früher die Aufgaben bewusst zugewiesen haben, übernehmen diese Funktion heute meist nicht mehr. Sie coachen, machen Mediation, organisieren die internen Märkte usw. Die Führung erfolgt nun durch einen unbewussten sozialen Prozess unter den Teammitgliedern. Die Führung wandert, was die Arbeit betrifft, ins Team; denn die – mehr oder weniger bewusst im Team gefassten – Beschlüsse werden über die soziale Kontrolle in den Teams und in den Einheiten durchgesetzt. (Im Unternehmensberaterdeutsch: Führungsarbeit wird ein Bestandteil einer jeden Arbeit.)

Dafür werden mehrere gruppendynamische Mechanismen genutzt, die in der Regel eines gemeinsam haben: Sie bleiben den Kolleginnen und Kollegen unbewusst und sind daher für die Teammitglieder unbeherrschbar. In dieser Unbewusstheit führt der so geschaffene Gruppendruck zu nicht erfasster Mehrarbeit, zu psychischem Druck und emotionaler Erschöpfung bis hin zu Burnout, zu Mobbing und vor allem zu einer sogenannten „Solidarität“ im Dienst des Unternehmens. Denn es erscheint nun als eine Frage der Solidarität, das Team bei der Erfüllung der Ziele „nicht hängen zu lassen“ . Denn das Team hat sich ja durch – mehr oder weniger bewusste – Beschlüsse zu diesen Zielen verpflichtet oder „commitet“.

Partizipation oder Mitbestimmung?
Diese Form der Beteiligung an der unternehmerischen Willensbildung (aus unserer Sicht die Übernahme der Unternehmerfunktionen) kann man gut als „Partizipation“ bezeichnen. Mitbestimmung im Sinne des Betriebsverfassungsgesetzes ist jedoch etwas völlig anderes.

Mitbestimmung setzt sich unter anderem mit diesem System der Arbeitsorganisation im Interesse der Individuen und der Gesamtgesellschaft auseinander. Das Betriebsverfassungsgesetz enthält im Prinzip die rechtlichen Mittel dafür. So besteht nach dem Betriebsverfassungsgericht ein Mitbestimmungsrecht in Fragen des Gesundheitsschutzes. Leider umfasst es nur die Einwirkungen auf sachtechnische Prozesse, nicht auch auf sozialtechnische Prozesse wie z.B. das unbewusste Wirken der Teamprozesse.

Wichtig wäre dafür die Entwicklung der Fähigkeiten der Kolleginnen und Kollegen mit diesen Teamprozessen umzugehen: Die Gruppendynamik im Team bewusst zu machen und im Interesse der Gesundheit der Kolleginnen und Kollegen zu bearbeiten. Daher ist die Ausdehnung der Mitbestimmung auf die Grundsätze der Teamarbeit überhaupt bis hin zu „Agilen Teams“ zu fordern (wie der DGB das in seinem Entwurf von 2024 auch verlangt). Da die Führung sich in einen unbewussten Teamprozess verwandelt, sollten die Führungsgrundsätze auch, was die Arbeitsordnung betrifft, mitbestimmungspflichtig sein. Denn sie haben unmittelbare Auswirkungen auf das soziale Verhalten der Beschäftigten im Betrieb, das nach § 87, Abs. 1, Satz 1 mitbestimmungspflichtig ist. Zudem sollte der Betriebsrat das Recht haben, Führungskräfte hinsichtlich der Wirkungsweise ihrer Maßnahmen zu schulen – und Führungskräften solche Maßnahmen zu verordnen, wenn Beschwerden oder die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen dazu Anlass geben. Dass die Zeiterfassung den neuen Bedingungen angepasst und tatsächlich kontrollierbar werden muss, hat ja das Bundesarbeitsgericht bereits gefordert. Dies ist um so wichtiger, als die unkontrollierten Teamprozesse zu einer Verlängerung der nicht erfassten Arbeitszeit führen.

Blick in die Zukunft: Die neuen Fähigkeiten der Beschäftigten für gesellschaftliche Weiterentwicklung nutzen

Es stellt sich die Frage, ob man die Fähigkeit zur Bearbeitung der gemeinsamen Arbeit nicht auch im Interesse der Gesellschaft und der Kolleginnen und Kollegen geltend machen kann, wie das ja schon beim betrieblichen Gesundheitsschutz der Fall ist. Man könnte beispielsweise dem Betriebsrat das Recht einräumen, während der Arbeitszeit Arbeitsgruppen daran zu setzen, die gemeinsame Arbeit im Betrieb im Interesse der ökologischen Gestaltung der Produkte oder der Produktionsprozesse weiterzuentwickeln. Ähnliches könnte gelten für die Frage der Geschlechtergerechtigkeit und der sozialen Integration, sowie andere gesellschaftliche Anforderungen an die Unternehmen. Dazu sind dann auch Experten innerhalb und außerhalb des Unternehmens hinzuziehbar. Initiativen des Betriebsrats im Rahmen der Mitbestimmung in den entsprechenden Feldern wären einigungsstellenfähig. Es wäre auf diese Weise denkbar und sinnvoll, dass die Mitbestimmungsorgane sich bei der Realisierung der gesellschaftlichen Interessen denselben weiter entwickelten Fähigkeiten der Kolleginnen und Kollegen bedienen, die auch die Arbeitgeber bei der Sicherung der Profitabilität der Unternehmen nutzen. Überdies würde das den Kolleginnen und Kollegen ihre neuen Fähigkeiten bewusst machen, so dass sie auch besser gemeinsam und solidarisch auf sich und aufeinander aufpassen könnten. Sie könnten zum Beispiel die Arbeitszeit bewusst begrenzen, die Teamprozesse mehr und mehr zu beherrschen lernen und sich die kollegiale Solidarität bewusst erarbeiten. Sie würden – was in den neuen Formen der Arbeitsorganisation nur konsequent ist – Mitbestimmung in unternehmerischen Entscheidungen erreichen. Gleichzeitig würde der Interessengegensatz zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern wieder bewusster werden, der durch die „Solidarität“ im Dienst des Unternehmens aus dem Bewusstsein zu verschwinden scheint (und übrigens in der Konzeption der modernen Arbeitsorganisation ersetzt wird durch psychisch belastende Konflikte zwischen Teammitgliedern). Die kollegiale und gewerkschaftliche Solidarität würde klar unterscheidbar von der sogenannten „Solidarität“ im Dienst des Unternehmens. Die Verhältnisse würden für die Kolleginnen und Kollegen wieder durchschaubarer, was der Rechtsentwicklung in der Gesellschaft entgegenwirken würde.

Uns geht es nicht darum, die Partizipation zurückzudrängen, im Gegenteil. Aber sie muss unterschieden werden von der Mitbestimmung, die sich mit den für die Beschäftigten negativen Auswirkungen der Partizipation auseinandersetzt und diese begrenzt.