Der Arbeitgeber hat bis vor einigen Jahrzehnten in seiner Funktion als Unternehmer die Führung im Unternehmen wahrgenommen. Er hat den Markt beobachtet und daraus abgeleitet, was er will, dass in seinem Unternehmen geschieht. Das hat er über die Führungskräfte spezifiziert. Die Führungskräfte haben das den Kolleginnen und Kollegen mitgeteilt. Auf diese Weise wussten die Kolleginnen und Kollegen, was sie zu tun hatten. Wenn der Arbeitgeber die Funktion der Führung nicht mehr wahrnimmt, bedeutet das nicht, dass Führung überflüssig wäre.
Für das Zusammenwirken der Kolleginnen und Kollegen ist sie im Gegenteil notwendig. Daher können sich die Arbeitgeber und die Führungskräfte darauf verlassen, dass die Kolleginnen und Kollegen die Führungsfunktion nun selbst wahrnehmen (müssen). Auf diese Weise können die Unternehmen die neuen produktiven Fähigkeiten der Kolleginnen und Kollege nutzen, aber auch nur so. (Die Arbeitgeber können im Notfall eingreifen und das Schlimmste verhindern. Aber dann würden sie auch die Nutzung der produktiven Fähigkeiten abwürgen.) Das führt dazu, dass der Arbeitgeber zur Seite tritt, um die Profitabilität des Unternehmen zu sichern und zu steigern. Er konfrontiert die Beschäftigten selbst mit „Marktanforderungen“, die das Unternehmen intern organisiert.
Unkontrollierte Anforderungen an die Teammitglieder
Der Arbeitgeber organisiert und verändert – durch Unternehmensberater beeinflusst – unternehmensinterne „Märkte“. Auf deren Veränderungen müssen die Kolleginnen und Kollegen in den Teams und Einheiten reagieren. Dafür treffen sie dezentral Entscheidungen. Diese Entscheidungen sind das Resultat von sozialen Prozessen in den Teams, um deren Steuerung sich die Unternehmen erfolgreich bemühen. In diesem Sinne ergänzen sich „Selbststeuerung“ des Teams und „Kontextsteuerung“ durch die Führungskräfte, wie das in der Gruppendynamik und im Management-Deutsch heißt. Durch diese Strategie verlieren die Führungskräfte den unmittelbaren Kontakt zu den Arbeitsvorgängen. Sie kennen die wirklichen Arbeitsabläufe oft nicht mehr. Das soll auch so sein. Denn ansonsten könnten die Führungskräfte helfend eingreifen. Damit würden sie die Entfaltung der neuen produktiven Kräfte behindern.
- Die Unkenntnis über die realen Arbeitsabläufe und
- die Dezentralisierung der Entscheidungen
- und die indirekte Steuerung sozialer Prozesse im Team
führen dazu, dass die Arbeitsaufgaben, die die Teammitglieder erhalten, nicht mehr bewusst kontrolliert werden. Es wird vielmehr mit den Gruppen experimentiert. Ziel dieser Experimente ist es, die optimale Leistungssteigerung aus der Gruppe heraus zu bringen, d.h. von den Mitgliedern möglichst hohe Leistungen abzufordern.
Überlastung im Team und das „Sich gegenseitig Helfen“
Die Führung soll also durch soziale Prozesse zwischen den Teammitgliedern geschehen. Diese sozialen Prozesse sollen von den Teammitgliedern nicht kontrolliert werden. Denn sonst könnten die Teams nicht indirekt gesteuert werden. Die Teams teilen ihren Mitgliedern also auf unkontrollierte Weise ihre Aufgaben zu. Das bedeutet auch: Die Gefahr der Überlastung der Kolleginnen und Kollegen ist groß. Wollen sie dieser Gefahr entgehen, müssen die Kolleginnen und Kollegen sich gegen den sozialen Druck ihrer Gruppenmitglieder behaupten. Aber wenn sie das tun, so belasten sie zumeist andere Kolleginnen und Kollegen. Sie tragen damit zu deren Überforderung bei.
Individuelles „Nein“-Sagen reicht also nicht aus, die Überlastung des Teams zu verhindern. Zumeist werden die anderen Kolleginnen und Kollegen diese Aufgaben auch übernehmen. Denn sie wollen vermeiden, dass das Team in schlechtem Licht dasteht. Sie „helfen“ den überlasteten Kolleginnen und Kollegen – und diese Form des „Helfens“ ist eines der wesentlichen Ziele der Arbeits- und Organisationspsychologie. Durch diese Art des „Helfens“ wandert die Überlastung von Teammitglied zu Teammitglied, ohne als solche sichtbar zu werden. (Es ist klar, dass diese Form des „Helfens“ dem Unternehmen „hilft“, die reale Überforderung der Kolleginnen und Kollegen nicht zur Kenntnis zu nehmen. Selbst wenn man also im Einzelfall einem Kollegen oder einer Kollegin hilft, bleibt diese „Hilfe“ beschränkt. Das Unternehmen plant die „Hilfe“ in die nächsten Ziele ein. Es geht die Überforderung des Teams nicht an, sondern schreibt deren Ergebnis im Gegenteil in den folgenden Zielvorgaben fort.)
Geteilte Führung und psychische Belastungen
Da die Führungsfunktion als Teil der Unternehmerfunktion an die Teams weitergegeben wird, entwickeln sich informelle Strukturen, in denen bestimmten Teammitgliedern Führungsfunktionen von der Gruppe unbewusst zugewiesen werden. Es ist die Absicht heutiger Führungstheorien, dass die Führung im Team „von selbst“ entsteht und von verschiedenen Team-Mitgliedern abwechselnd wahrgenommen wird. Sie entsteht informell. Das bedeutet, dass diesen Mitgliedern nicht offiziell Führungsfunktionen gegeben werden oder sie dafür entlohnt werden. Diese Zuweisung geschieht mit der Macht der Gruppe, so dass es sehr schwierig ist, sich ihr zu entziehen, zumal ein Team zusammenbleiben möchte. Das in die informelle Führungsrolle geschobene Teammitglied vertritt dann in der Regel die Anforderungen des Unternehmens im Team. Dies führt häufig zu Konflikten im Team, weil diese Zuweisungsprozesse – wie alle anderen Teamprozesse auch – in der Regel unbewusst laufen. (Geteilte Führung führt zu psychischen Belastungen, wie Annika Piecha und Jörg Felfe festgestellt haben.)
Dies sind die wichtigsten unmittelbaren Auswirkungen des veränderten Führungsverhaltens. Weitere Auswirkungen würden hier den Rahmen sprengen.