Gefährdungsbeurteilung

Dieser Text behandelt drei Aspekte des Themas, nämlich den juristischen, den strategischen und den technischen Aspekt.

Die gesetzliche Anforderung

Die zunehmenden psychischen Belastungen bei der Arbeit haben dazu geführt, dass der Gesetzgeber das Thema in das Arbeitsschutzgesetz aufgenommen hat. Der Arbeitgeber hat nach § 5 Absatz 3 Satz 6 des Arbeitsschutzgesetztes die Pflicht, die Arbeit in seinem Unternehmen in Bezug auf die Frage zu beurteilen, ob und wenn ja welche Maßnahmen zum Schutz der psychischen Gesundheit der Beschäftigten zu ergreifen sind. Der Gesetzgeber schreibt auch die Sachritte vor, die der Arbeitsgeber bei der Gefährdungsbeurteilung machen muss. Er muss

  1. feststellen, ob es Belastungen der Gesundheit gibt, die mit der Arbeit in seinem Unternehmen verbunden sind. (Es müssen nicht erst Menschen krank werden, damit es zu einer Gefährdungsbeurteilung kommt.)
  2. beurteilen, welche (Fehl-)Belastungen eine Gefährdung der Gesundheit der Beschäftigten darstellen und in welchem Umfang das der Fall ist.
  3. beurteilen welche (Fehl-)Belastungen als erste angegangen werden sollen.
  4. Maßnahmen entwickeln, durch die Belastungen auf ein gesundheitsverträgliches Maß reduziert werden können und diese Maßnahmen durchführen.
  5. die Wirksamkeit der Maßnahmen überprüfen und ggf. andere Maßnahmen einleiten, um die Gefährdungen zu reduzieren.
  6. Sind die Maßnahmen erfolgreich, können andere Belastungen in Angriff genommen werden. So sollen auch die psychischen Belastungen nach und nach abgebaut werden.

Dieses Vorgehen ist Schritt für Schritt mitbestimmungspflichtig. Der Betriebsrat hat also das Recht bei den Entscheidungen, die im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung notwendig sind, mitzubestimmen nach § 87, Absatz 1, Satz 7 des Betriebsverfassungsgesetzes. Der Betriebsrat kann daher weitgehend Einfluss auf die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastung nehmen. Wie kann der Betriebsrat vorgehen, wenn Einfluss auf die Gefährdungsbeurteilung nehmen will?

Strategische Überlegungen

Der Gesetzgeber verfolgt bei der Gefährdungsbeurteilung eine allgemeine Idee: Der Arbeitgeber nutzt die Bearbeitung der gemeinsamen Arbeit, die neuen produktiven Fähigkeiten, durch die Beschäftigten zur Steigerung der Profitabilität des Unternehmens. Kann man nicht dieselbe Fähigkeit einsetzen, um die (Zusammen-)Arbeit so zu bearbeiten, dass die Gesundheit der Kolleginnen und Kollegen weitgehend gewahrt bleibt? Der Gesetzgeber setzt auf dieselben produktiven Fähigkeiten der Beschäftigten wie die Arbeitgeber. Allerdings setzt er für die Bearbeitung der (Zusammen-)Arbeit andere Kriterien: Es geht ihm nicht um die Profitabilität, sondern um die Gesundheit der Beschäftigten.

Die Gesundheit ist durch die Art der indirekt gesteuerten Zusammenarbeit gefährdet. Es müssen also Formen der Zusammenarbeit erarbeitet werden, die die psychischen Fehlbelastungen reduzieren. Eine – vielleicht die – wesentliche psychische Fehlbelastung ist die – mit den zunehmenden Anforderungen wachsende – Gruppenspannung. Die Teams müssen sich also mit der Gruppenspannung auseinanderzusetzen lernen. Dafür bietet die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen die Möglichkeit. Denn mit ihrer Hilfe kann man die Fähigkeit der Kolleginnen und Kollegen in Anspruch nehmen, ihre (Zusammen-)Arbeit gemeinsam zu bearbeiten. Dafür ist ein anderes Kriterium der Bearbeitung der Zusammenarbeit erforderlich, nämlich das der Erhaltung der psychischen Gesundheit der Beschäftigten. Diese Form der Bearbeitung der gemeinsamen Arbeit in der Gefährdungsbeurteilung durchzusetzen, dazu bedarf es der Mitbestimmung des Betriebsrats.

Damit wird zugleich sichtbar: Profitabilität des Unternehmens muss nicht das einzige Kriterium sein, unter dem die Kolleginnen und Kollegen ihre Arbeit und ihre Zusammenarbeit bearbeiten.

Die technischen Mittel

Die Bearbeitung der gemeinsamen Arbeit ist am Besten in Workshops möglich. Sie werden vom Arbeitgeber genutzt, wenn es um die bewusste Weiterentwicklung der Arbeit und Zusammenarbeit geht. (Die unbewusste Weiterentwicklung wird über die Gestaltung der „Umwelt“ sowohl angestoßen wie inhaltlich indirekt gesteuert. Sie ist zugleich das Mittel, die bewusste Weiterentwicklung der Zusammenarbeit dem Unternehmenszweck unterzuordnen.) Die Workshops im Rahmen der Gefährdungsbeurteilung können auch die Gruppenspannung erarbeiten, die zu den (Fehl-)Belastungen führt. Dafür gibt es zum Beispiel die Teamzeichnungen der indirekten Steuerung. Sie machen den Zusammenhang zwischen der indirekten Steuerung und den psychischen Fehlbelastungen im Team deutlich. Sie vermeiden die Gefahr, Gruppenprobleme als Probleme einzelner Kolleginnen und Kollegen in der Gruppe anzusehen. Die Teamzeichnungen konzentrieren sich auf die Gruppenspannung, auf ihre Ursachen in der indirekten Steuerung und auf das Ausmaß der resultierenden Fehlbelastungen.

Zugleich führen Workshops zu ersten Maßnahmen, die ergriffen werden können, um Burnout zu verhindern.  Die Kolleginnen und Kollegen erleben die Wirksamkeit dieser Maßnahmen unmittelbar. Sie können daher jederzeit nachbessern. So entsteht eine dauerhafte Reflexion der gemeinsamen Arbeit unter dem Gesichtspunkt der Vermeidung psychischer Fehlbelastungen.

Selbstverständlich können auch andere Mittel zur Beurteilung von psychischen Belastungen herangezogen werden. Zum Beispiel sind Fragebogen sehr beliebt. Es ist aber klar, dass Fragebogen dazu neigen, Probleme der Gruppenspannung an Individuen festzumachen. Dann aber hat man die Ebene verpasst, auf der es Eingriffsmöglichkeiten gibt. Statt dem eigentlichen Problem zu Leibe zu rücken, erklärt man einzelnen Individuen zum Problem. Das ist aber nicht der gesetzliche Auftrag der Gefährdungsbeurteilung, sondern widerspricht ihm direkt. Bei der Gefährdungsbeurteilung stehen die Arbeitsbedingungen im Thema, nicht die Individuen. Die sogenannte Verhältnisprävention konzentriert sich auf die Arbeitsbedingungen. Die Gefährdungsbeurteilung zielt auf Verhältnisprävention. Das bedeutet auch: Es geht nicht um das Verhalten von Individuen oder gar darum, dass sie krank wären. Der Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung sind Arbeitsbedingungen und -strukturen, die krank machen.

Individualisierungen vermeiden

Es mag sein, dass Tai Chi, Qi Gong, progressive Muskelentspannung, autogenes Training und Yoga Individuen hilft. Aber das ist nicht der Gegenstand der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen. Da geht es nicht um das Verhalten einzelner Individuen, sondern um Gefährdungen, die sich aus der Arbeit und der Zusammenarbeit im Unternehmen ergeben.

Gefährdungsbeurteilung lernen

Einigen Kolleginnen und Kollegen berichten, dass die Betriebe, in denen sie arbeiten, eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen haben, die aber nichts bringt, weil sie bloß „im Schrank steht“. Das ist einerseits bedauerlich, weil damit eine Chance ungenutzt bleibt. Andererseits ist es nicht schlimm, weil die Gefährdungsbeurteilung wiederholt werden muss. Man kann also lernen, wie eine Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen so durchgeführt werden kann, dass sie eine Wirkung zeigt. Die Gefährdungsbeurteilung ist eine Form des Lernens, in der zugleich das Lernen lernt. Wichtig ist, dass die Kolleginnen und Kollegen den Sinn der Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen verstehen: Es geht darum, nicht unter die Räder der eigenen produktiven Fähigkeiten zu geraten, weil man sie nicht kennt.