Hauptursachen

Dieser Text ist aus der Sicht der Kolleginnen und Kollegen geschrieben und eine gewerkschaftliche Sicht der Dinge. Mit „wir“ sind daher die Kolleginnen und Kollegen gemeint.

Die Hauptursache von Burnout ist eine doppelte. Einerseits arbeiten wir, die Beschäftigten der Unternehmen und Behörden, wesentlich besser und produktiver als bis vor wenigen Jahrzehnten. Andererseits ist uns aber nicht bewusst, welche Fähigkeiten wir dabei einsetzen. Diese Fähigkeit besteht darin, dass wir unsere (Zusammen-)Arbeit bearbeiten. Diese Fähigkeit nutzen LEAN, Kai Zen, Agilität und alle daran anschließenden Formen der Organisation der Arbeit. Diese Formen konfrontieren uns mit „Umwelt“-Anforderungen, auf die wir gemeinsam reagieren: Wir verändern unsere Art zu arbeiten, wir bearbeiten sie. Im Management-Deutsch spricht man dabei vom „Change“, auf den wir durch „Innovation“ antworten müssen.

Wir bearbeiten unsere Zusammenarbeit in organisatorischen Einheiten wie etwa Teams oder Abteilungen. Das gibt uns größeren Handlungsspielraum und macht in gewissem Umfang mehr Spaß. Anordnungen werden seltener, sind meist ohnehin unrealistisch und prägen nicht mehr den Arbeitsalltag. Stattdessen wird in den Teams selbst entschieden, was und wie gearbeitet wird. Das macht Spaß. Denn es entfaltet produktive Kräfte bei der Arbeit. Diese Kräfte wirken nicht nur sehr stark, sondern auch unkontrolliert. Gerade das Unkontrollierte, das Antiautoritäre fördert die gute Stimmung und den Zusammenhalt im Team.


Gemeinsam entwickelte Kraft ….

Diese gemeinsam entwickelte Kraft wendet sich aber nicht nur nach außen, sondern auch in das Team hinein. Da sie uns unbewusst bleibt, bleiben auch die Wirkungen dieser Kraft unbewusst. Das bedeutet aber nicht, dass andere nicht um sie wissen und sie gezielt einsetzen. Die Unternehmen kennen diese Kräfte. Sie werden seit etwa 80 Jahren in der Arbeits- und Organisationspsychologie erforscht und gezielt entwickelt. Auch ihre Unbewusstheit wird bewusst eingesetzt. So werden Prozesse organisiert, die uns unter Druck setzen sollen. Nicht die Vorgesetzten sollen uns Druck machen – oder nur ausnahmsweise. Wir selbst sollen das tun und tun es bei der unkontrollierten Entfaltung der Kräfte unserer Zusammenarbeit.

… wirkt unbewusst

Diese Kräfte messen die Arbeits- und Organisationspsychologen als „Wir“-Gefühl oder „Kohäsion“. Die Kohäsion ist ein Maß der Macht der Gruppe über die Individuen, die ihr angehören. Diese Macht kann man stärken, indem man die Teams – vermittelt durch ihre „Umwelt“ immer wieder und dauerhaft – moderat überfordert. So werden die Mitglieder des Teams insgesamt als Team von jedem ihrer Mitglieder möglichst viel Energie abfordern. So entsteht ein von uns im Team gemeinsam entwickelter Druck auf jedes einzelne Mitglied in der Gruppe das Seine, das Ihre zu tun.

Woran könnte es liegen? Alltagspsychologie

Die Gruppenmitglieder empfinden zwar diesen Druck. Aber sie können ihn nicht zuordnen. Sie fühlen – wenn überhaupt – nur unbestimmt, dass er irgendwie mit dem Unternehmen zusammenhängt. Oder sie schreiben ihn bestimmten Individuen zu, die sie moralisch verurteilen. Dann sind es die Jungen, die noch Karriere machen wollen, die Leiharbeitenden, die eine Festanstellung erreichen wollen und andere, die diesen Druck ausüben. Diese Vorstellungen sind verständlich. Aber sie übersehen das Wesentliche: Wir gemeinsam im Team reagieren auf den Druck der für uns organisierten „Umwelt“, indem wir diesen Druck auf jedes unserer Mitglieder gezielt und gebündelt weitergeben. So wird die Kraft der Gruppe eingesetzt, um jede und jeden von uns dafür zu „gewinnen“, uns voll und ganz für das Team einzusetzen.

Die Belastung unserer Beziehungen…

Dieses Verfahren belastet unsere persönlichen Beziehungen bei der Zusammenarbeit mit dem unternehmerischen Zweck. Der Zweck des Unternehmens besteht in der profitablen Produktion von im weitesten Sinne nützlichen, d.h. verkäuflichen Dingen, Dienstleistungen etc. Den Gewinnmargen sind keine Grenzen gesetzt. Es kann aus der Sicht des Unternehmens keinen zu hohen Profit geben. Also sind auch den Anforderungen an die Beschäftigten von selbst keine Grenzen gesetzt. Die Entfaltung der produktiven Kräfte der Kolleginnen und Kollegen ist im Kapitalismus Zweck an sich selbst. Das bedeutet auch: Dem Druck der Teammitglieder insgesamt auf jedes einzelne Teammitglied ist keine Grenze gesetzt, solange diese Prozesse nicht bewusst sind.

…mit dem unternehmerischen Zweck

Der Druck auf die Beziehungen in der Zusammenarbeit äußert sich in den Individuen als emotionale Erschöpfung. Denn wie wir zu anderen Individuen stehen, das nehmen wir in Gefühlen wahr. Wenn wir uns also dauerhaft selbst überfordern, um den Anforderungen der anderen Teammitglieder und unseren eigenen gerecht zu werden, dann reagieren wir darauf mit anhaltender emotionaler Erschöpfung. Dieser Prozess der emotionalen Erschöpfung ist der Kern der Burnout-Entwicklung.

Emotionale Erschöpfung

Emotionale Erschöpfung führt dazu, dass wir nach und nach die Fähigkeit verlieren uns zu erholen. Wir verlieren das Bewusstsein der Erschöpfung. Wir verlieren die Kontrolle über den Prozess der Erschöpfung und reagieren aggressiv oder ängstlich, wenn wir auf entsprechende Erschöpfungserscheinungen angesprochen werden. Denn wir verstehen sie – nicht zu Unrecht – als Verstärkung des Drucks auf uns. So wird es für andere Menschen, Kolleginnen und Kollegen oder Freunde, fast unmöglich, uns auf die Erschöpfungserscheinungen anzusprechen. Der Prozess nimmt schlimmstenfalls seinen Lauf bis zum Zusammenbruch.

Die Hauptursache liegt in der Unbewusstheit der Kräfte, die sich in unserer Zusammenarbeit entfalten. Sie liegt nicht in den Kräften selbst. Die Unbewusstheit führt dazu, dass wir unsere eigenen Kräfte nicht unter unserer gemeinsamen Kontrolle haben. Das müssen wir lernen, um uns zu schützen. Dafür brauchen wir:

  1. die Kenntnisse dieser Kräfte
  2. eine gemeinsame Verständigung über die Kontrolle dieser Kräfte und
  3. eine Regelung, die uns in die Lage versetzt, diese Kontrolle auch tatsächlich in der Zusammenarbeit auszuüben.

Diese Voraussetzungen können erarbeitet werden. Denn die Gefährdungsbeurteilung psychischer Belastungen ist eine gesetzliche Vorschrift, die genau diese Fähigkeit nutzt: Die Fähigkeit, unsere Zusammenarbeit zu bearbeiten. Aber sie nutzt diese Fähigkeit zu einem anderen Zweck als die kapitalistischen Unternehmen: Sie nutzt sie zum Schutz unserer Gesundheit.