Perspektive

Ist Burnout überhaupt eine Krankheit?

Die Ärzte sehen Burnout nicht als eine Krankheit an. Sie betrachten Burnout als Zusatzdiagnose (Z 73), eine zusätzliche Information des überweisenden Arztes an den Arzt, an den überwiesen wird. Sie meinen, die Forschung reiche nicht aus und sei nicht eindeutig genug, um Burnout als Krankheit einzuordnen. So kann man es sehen, wenn man sich an die einzelnen Fälle hält. Dann ist zumeist unklar oder uneindeutig, woher Burnout kommt. Man kann Burnout aber auch als ein gesellschaftliches Phänomen sehen und sich dann fragen, ob Burnout eine Krankheit ist. Die Frage, die sich dann stellt, ist: Was ist überhaupt eine Krankheit – gesellschaftlich betrachtet?

Um diese Frage zu beantworten, wenden wir uns der Medizingeschichte von Roy Porter zu: „Die Kunst des Heilens. Eine medizinische Geschichte der Menschhit von der Antike bis heute“.

Roy Porter hat sich mit der Frage beschäftigt, wie Krankheiten als gesellschaftliche Erscheinungen entstehen: „Seuchen und Pestilenzen sind weder von Gott gesandt noch natürliche Gefahren; sie sind von der Menschheit selbst geschaffen. Die Krankheit ist ebenso eine soziale Entwicklung wie die Medizin, die sie bekämpft.“ (S. 15). Als Beispiel nennt Roy Porter die neolithische Revolution, die Sesshaftwerdung der Menschen zwischen 10.000 bis 8.000 vor Chr. „Als aus Jägern und Sammlern Hirten und Landwirte wurden, war der Krankheit der Boden bereitet. Sich schnell verbreitende Krankheitserreger, die einst ausschließlich Tieren vorbehalten waren, wurden auf Schweine und Ziegenhirten, Pflüger und Reiter übertragen; damit setzten die endlosen evolutionären Anpassungsprozesse ein, aufgrund derer der Mensch nicht weniger als 65 durch Mikroorganismen hervorgerufene Krankheiten mit Hunden (angeblich den besten Freunden des Menschen) gemein hat und ebenso viele mit Rindern, Schafen, Ziegen, Schweinen, Pferden und Geflügel.“ (Seite 18). Aber nicht nur die Tierzucht, auch die Sesshaftigkeit, die mit der Landwirtschaft verbunden ist, begünstigte Krankheiten. „Die sesshafte Lebensweise bot Insekten, Schädlingen und Parasiten einmalige Gelegenheiten, während die Nahrungsspeicher mit Insekten, Bakterien, Pilztoxinen und Nagerexkrementen verseucht wurden. Die allgemeine Gesundheit verschlechterte sich; Infektionen wurden immer schlimmer und die Vitalität der Menschen nahm ab.“ Malaria wird durch die Abholzung von Wäldern und die Versumpfung von Landschaften hervorgebracht.

Ein anderes Beispiel: Die beginnende Industriegesellschaft führte zu Verstädterung, die wiederum durch die Ungelöstheit der Abwasserversorgung die Cholera nach sich zog. Als die Probleme mit der Abwasser und Abfallentsorgung gelöst waren, verschwand auch die entsprechende Krankheit. Mit anderen Worten: tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen in der Lebensweise der Menschen rufen oft aufgrund ihrer Unbewusstheit Krankheiten hervor. Sie machen dem Menschen deutlich, dass solche Veränderungen eine Reihe von Maßnahmen erfordern, die für das Leben unter den neuen Bedingungen erforderlich oder wünschenswert sind. Durch Krankheiten erfahren die Menschen, was das Leben unter diesen veränderten Bedingungen bedeutet.

Das hindert die Mediziner nicht daran, bei diesem Prozess von der Notwendigkeit einer „Anpassung“ zu sprechen, denn sie schreiben die notwendigen Konsequenzen der Veränderung des gesellschaftlichen Lebensprozesses der so genannten „Umwelt“ zu, an die es sich anzupassen gelte. So erscheint die gesellschaftliche Seite des Entwicklungsprozesses der Menschheit als „sich verändernde Umwelt“. Lernprozesse wiederum sehen so aus, als wären sie Anpassungsprozesse an eine fremde „Umwelt“.

Legt man diesen Krankheitsbegriff zugrunde, dann ist Burnout diejenige Krankheit, die uns die Unbewusstheit der Veränderung unserer Arbeits- und Lebensweise zeigt – der Veränderung, die aus der gewachsenen produktiven Kraft der Beschäftigten in den Unternehmen hervorgeht. So betrachtet handelt es sich um eine Krankheit, und man würde sich um die Erkenntnis dieses Zusammenhangs bringen, wenn man das leugnet.

Kann man Burnout überwinden?

Wie kann man eine solche Krankheit überwinden bzw. ihr vorbeugen? Wenn man den Vergleich zu den bisher genannten Krankheiten heranzieht, dann wird man einräumen müssen, dass man diese Krankheit nicht unmittelbar vermeiden kann, weil sie geschichtlich betrachtet von der Menschheit in ihrer Entwicklung selbst unbewusst hervorgebracht wurde. Sie verwandelt sich dadurch in ein Stadium des Entwicklungsprozesses zunächst der Menschheit und dann auch der Individuen. Wir haben in der Broschüre „Burnout – Eine Folge der Neuen Organisation der Arbeit“ einen Vergleich mit anderen Krankheiten angeführt: „Masern, Pocken und Windpocken wurden zu Kinderkrankheiten, die bei den Kindern weniger schwer verliefen und eine bleibende Immunität hinterließen. Dieser Vorgang markiert einen epidemiologischen Wendepunkt. Durch derartige evolutionäre Adaptationen – aus epidemischen Krankheiten werden endemische – passten sich wachsende Populationen bestimmten, einst tödlichen Seuchen an und überwanden sie.“

Übertragen auf Burnout würde das bedeuten: Burnout überwinden wir nicht, indem wir es nicht bekommen oder vermeiden, sondern indem wir es in eine Entwicklungsperiode der Menschen, eine Kinderkrankheit verwandeln. Zukünftige Kinder würden in dieser Kinderkrankheit lernen, was wir jetzt zu lernen haben: Nämlich wie wir mit den Anforderungen zurechtkommen können, die die neuen Formen der Organisation der Arbeit an die Beschäftigten stellen.

Wenn man wie die Mediziner den gesellschaftlichen Entwicklungsschritt der Menschheit der letzten 50 Jahre als einen „Umweltprozess“ betrachtet, dann sieht es so aus, als müssten sich die Menschen, also wir, dieser veränderten „Umwelt“ anpassen. Die Anpassung erscheint so als ein Leiden der Menschen. Die Aktivität liegt –auf merkwürdige Weise – bei der „Umwelt“. Was eine neu erworbene Stärke der Menschen, ein Fortschritt der Menschheitsentwicklung ist, erscheint als eine Schwäche – nur weil die Menschen nicht gelernt haben, mit den Folgen ihres Handelns umzugehen. Es reicht eben nicht, Dinge zu können, man muss auch wissen, wie man mit dieser Fähigkeit umgeht.