Führung: Psychologische Quellen

Es gibt unendlich viele Quellen zur Veränderung der Funktion und der Anwendung von Führung von und in Gruppen. Es kann sich hier nur um eine kleine Auswahl handeln. Dennoch möchte ich wenigstens ein paar Quellen aufzeigen. Das scheint mir deswegen wichtig, weil die entsprechenden Forscher durchaus ehrenwerte und demokratische Motive hatten, aber die Unbewusstheit der von ihnen initiierten Prozesse nicht als Problem angesehen haben. So erschien sie geradezu als demokratisch, wodurch unbewusste Prozesse als demokratische Prozesse geadelt wurden. Eine der frühesten Quellen, die ich kenne, ist der Psychoanalytiker und Gruppenanalytiker S. H. Foulkes. („Führertum und gruppenanalytische Psychotherapie“, in: S. H . Foulkes, Gruppenanalytische Psychotherapie, S. 81 – 93. Der Beitrag beruht auf einem 1949 gehaltenen Vortrag.) Er stellt den Grundgedanken der Veränderung der Führung von Gruppen hin zur Führung in Gruppen sehr gut dar. Allerdings dient diese Veränderung in seinem Falle nicht der Leistungssteigerung, sondern der Heilung von psychisch Kranken. (Man kann natürlich auch die gesteigerte Leistungsfähigkeit als eine Heilung interpretieren, aber man kommt dann in Probleme mit bestimmten Krankheitsformen, die gerade auf der Leistung der kranken Individuen beruhen oder sich zumindest darin zeigen.)

Es ist wichtig, zu wissen, dass die hier dargestellten Prozesse zur Heilung von Patienten als Gruppenmitgliedern dienen sollten. Ihrem Rahmen der Arbeits- und Organisationspsychologie wurden sie dann mehr und mehr instrumentalisiert. Das lag nicht in der Absicht der Gruppenanalytiker wie Foulkes. (Eher hatte Kurt Lewin von Anfang an diese Instrumentalisierung im Programm.) Es liegt aber dann im Wesen der Arzt-Patienten-Beziehung, wenn diese nicht als solche kritisch reflektiert wird. Dafür reicht es nicht aus, die Gesundung als das Ende der Beziehung mit zu bedenken. Es muss vielmehr der beschränkte, weil professionelle Charakter der Beziehung berücksichtigt werden. Sonst erscheint die Heilung nicht nur als Heilung, sondern auch als politische Befreiung, was nur in einem sehr beschränkten Sinn zutrifft. Aber nun zu Foulkes:

Zunächst wendet sich Foulkes dagegen, den Therapeuten als „Führer“ der Gruppe zu charakterisieren. Der Therapeut „führe“ nicht die Gruppe; er leite sie, lenke sie aber ununterbrochen. Anfangs sei eine Gruppe „führerzentriert“, während der Therapeut von Anfang an die Gruppe in den Mittelpunkt rücke und sich in deren Dienst stelle. Dadurch aktiviere und mobilisiere er „das Latente“ und wirke als „Katalysator“. „Der Leiter wird vorzugsweise mittels der Gruppe aktiv.“ Foulkes beschreibt dann, wie der Therapeut zwischen analytischen (differenzierenden) und integrierenden (stützenden) Prozessen eine Balance hält, die er durch „erträgliche Gleichgewichtsstörungen“ zu einer reiferen Form der Integration der Gruppe zu entwickeln trachtet. Dafür sei er in seiner Rolle als „Beobachter“ in einer besonders günstigen Lage. Aufgrund seiner Ausbildung als Analytiker sei er aber auch – im Unterschied zu anderen Gruppenmitgliedern – dazu in der Lage.

Durch dieses „Nicht-Führen“ des Therapeuten werden die Gruppenmitglieder aktiviert. „Jedes Gruppenmitglied wird aktiv mit der Frage konfrontiert, die ich für unsere Zwecke das Grundproblem eins des sozialen Lebens genannt habe: die Beziehung zu anderen Menschen und zur Gruppe als Ganzes.“ Das Individuum entwickele sich aus einer Konstellation von Individuum und Gruppe zu einer Konstellation von Individuum in der Gruppe. „Explizit: das Individuum lernt, daß es die Autorität der Gruppe als Schutz und Sicherheit gegen die Übergriffe der Impulse der anderen (gemeint sind die anderen Gruppenmitglieder, Stephan Siemens) braucht. Es muss daher die Autorität der Gruppe schaffen und aufrechterhalten, indem es bereitwillig notwendige Modifikationen seiner eigenen instinktiven Impulse bejaht. Es lernt auch, daß es als Gegenleistung für sein Opfer an ungehemmter Aktivität die Unterstützung der Gruppe für seine eigene besondere Individualität bekommt.“

Hier stellt Foulkes die Macht der Gruppe und ihre psychologische Grundlage in der Angst der Individuen dar. Diese Angst resultiert daraus, dass soziale Beziehungen von den Individuen, die in ihnen befangen sind, individuell nicht beherrscht werden können. Diese Angst wird von den Individuen – wenn man das so nennen kann – bewältigt, indem sie die Autorität der Gruppe schaffen und aufrechterhalten – gegen sich selbst und gegen andere. Foulkes schreibt weiter:

„Es (das Individuum, Stephan Siemens) nimmt an einem zweifachen Prozess teil: es muss die Wünsche und Bedürfnisse der anderen (Gruppenmitglieder, Stephan Siemens) tolerieren, wenn es den Anspruch erhebt, daß seine Ansprüche anerkannt werden, und es muss das Verhalten bei sich einschränken, das es bei anderen ablehnt.“

Ausdrücklich betont Foulkes die Notwendigkeit dieses Prozesses: „Diese Haltung wird sich als emotioneller und psychologischer Prozess unvermeidlich einstellen, sie kann aber auch auf intellektuellem Wege erworben werden. Diese notwendige Anpassung an die Realität und an die Regeln des sozialen Umgangs kann umso mehr angenommen werden, als der analytische Prozess gleichzeitig den Patienten von Angst und Abhängigkeit gegenüber den primordialen Autoritätsfiguren befreit.“

Foulkes rechtfertigt also diese Form der „notwendige(n) Anpassung an die Realität“ durch die Befreiung von Autoritätsfiguren, übersieht aber, dass es sich um Prozesse der Anpassung an unbewusste Gruppenstrukturen handelt. Das Resultat dieser Anpassung kann auch auf intellektuellem Wege erworben werden. Das ist aber nicht der Weg, der mit psychisch kranken Menschen einzuschlagen ist. Er muss aber möglich sein. Sonst könnte der Therapeut diese Entwicklung nicht bewusst initiieren und „ununterbrochen lenken“. Die Bewusstheit beschränkt sich hier auf den Therapeuten, während die Gruppenmitglieder sich ihnen unbewussten Prozessen aus Angst voreinander anpassen.

Später kommt Foulkes auf diesen Punkt zurück und schreibt: „Autoritätsabhängigkeit wird ersetzt durch Vertrauen in die Gruppe selbst.“ Dazu allerdings braucht der Leiter eine Grundautorität, die er im Interesse der „Reife“ der Gruppe einsetzt. „Die gruppenanalytische Situation ist ein wertvolles Werkzeug der Psychotherapie und des wissenschaftlichen Studiums des Menschen in einer bestimmten sozialen Umgebung.“ Dieses Werkzeug „gruppenanalytische Situation“ ist sozusagen das Labor der Psychologie und damit zugleich auch der Arbeits- und Organisationspsychologie.

Die Ersetzung der führerzentrierten Gruppe durch die bezeichneten, den Gruppenmitgliedern unbewussten Prozesse der Gruppe selbst ,wird von Foulkes zur demokratischen Einstellung überhöht: „Der zweite Eindruck, den ich hoffe vermittelt zu haben, ist folgender: Daß der Geist, in welchem diese Gruppen geleitet werden, und die Qualität, die der Leiter braucht, eine wesenhafte Beziehung zu den Erziehungskonzepten für einen demokratischen Lebensstil und ein offenes Weltbürgertum haben.“

Das mag sein. Es wird aber auch sichtbar, dass Foulkes sich ein elitäres Konzept der „Leitung“ mittels der Anpassung der Individuen an die Gruppe als Demokratie vorstellt. (Dieser Leiter wird noch einmal abschließend charakterisiert.) Damit wird die Demokratie an unbewusste soziale Prozesse der Individuen geknüpft, die ihre Grundlage in der Angst der Menschen voreinander haben. Diese Prozesse sichern die „Anpassung der Individuen an die Realität.“ Eine Elite ist in der Lage, sich intellektuell die Bewusstheit dieser Prozesse zu erarbeiten. Sie kann daher „mittels der Gruppe“ aktiv werden, während sich die nicht-elitären Gruppenmitglieder der mittelbaren Leitung durch „die Gruppe selbst“ anvertrauen müssen.